Jede Menge Freie Strassen

Das edle Traditionsmodehaus Henri Bendel an der 5. Avenue hatte keine Chance mehr und musste schliessen. (Foto: Charles Sykes, AP)

Die Freie Strasse steht wieder einmal im Rampenlicht – als Trauerspiel. Nur Zyniker wird amüsieren, dass die Einkaufsmeile zwischen Markt- und Bankenplatz ihrem Namen gerecht wird, denn sie ist zunehmend frei: frei von Geschäften und ihren Kunden.

Ich kann Baslerinnen und Basler trösten. In New York City gibt es jede Menge Freie Strassen. Seit Monaten wütet in der 8,6-Millionen-Stadt dasselbe Ladensterbevirus, das auch am Rheinknie sein Unwesen treibt. Überall in Manhattan werden immer mehr Schaufenster vor leeren Lokalitäten zugeklebt. Links und rechts werben riesige Schilder für «Prime Retail Opportunity» – Möglichkeit für Einzelhandel in bester Lage.

Kein noch so mondäner Shoppingbezirk wird von der Epidemie verschont. An der fünften Avenue südlich des Central Park ist das noble Warenhaus Henri Bendel nach 124 Jahren zugegangen. Im gleichen Strassenabschnitt gaben die Flaggschiffläden von Ralph Lauren, Tommy Hilfiger, Gap und dem Schmuckhändler Stuart Weitzman auf. Finito ist die Filiale von Ermenegildo Zegna.

Es tötelt sogar in SoHo, wo sich New Yorks Reiche und europäische Touristen auf schmalen Trottoirs den Platz streitig machen. Viele Geschäftsinhaber erneuern ihre Mietverträge nicht, wenn diese nach zehn Jahren ablaufen. Dann suchen Eigentümer von Ladenlokalen oft ohne Erfolg nach neuen Nutzern.


Das ist ein Unterschied zu Basel: An Menschen fehlt es in New York nicht.


Wie vieles in New York ist der Einzelhandel zyklisch. Liegenschaftsbesitzer nutzen Boomphasen rücksichtslos aus, um Mieten in die Höhe zu treiben. Lieber lassen sie Lokalitäten leer stehen, als dass sie dem Markt folgen und Preise senken.

Es sind aber auch grössere Trends am Werk. Fussgängerzonen, die sich in New York immer mehr ausbreiten, werden kontraproduktiv, wenn keine Taxis mehr Kunden hinbringen können. Vor allem ist für eine junge Generation die Vorstellung antiquiert, für Anschaffungen Läden aufzusuchen. Ihre Schnittstelle zur Warenwelt ist das Internet. Sie halten es ständig in den Händen in Gestalt ihres Smartphones, dem sie wie Zombies hinterhertappen.

Das ist ein Unterschied zu Basel: An Menschen fehlt es in New York nicht. Beim Union Square wimmelt es auf den Trottoirs fast jeden Tag so dicht wie in Basel zweimal im Jahr beim Cortège. Doch davon abgesehen wirken in beiden Städten die gleichen destruktiven Kräfte. Hier wie dort hat gegen das Ladensterben kein Genie Abhilfe gefunden.


Erschienen am 16. Juli 2019 in der Basler Zeitung.

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