Ungebetene Gäste am Seehund-Buffet

Das gloriose Sommerreiseziel Cape Cod ragt an der Küstevon Massachusetts in den Atlantikwie der angewinkelte Arm eines Boxers in Siegerpose. Jedes Jahr strömen sechs Millionen Besucher auf diese Halbinsel, um unter luftigen Pinien das helle Sonnenlicht einzusaugen und zirpenden Grillen zu lauschen. Zur Erfrischung laden Teiche mit kühlem Süsswasser, ausgeschliffen von zurückweichenden Gletschern der letzten Eiszeit. Die grösste Attraktion ist ein 64 Kilometer langer, makelloser Sandstrand. Unter riesigen Dünen, den offenen Ozean vor Augen, lässt sich hier so erholsam wie kaum anderswo sonnenbaden, spazieren, schwimmen und surfen.
Das war einmal. Dieses Jahr müssen Strandgänger vor allem nach Haien Ausschau halten. Seit ein Surfer auf einem Boogieboard letzten September als erster Mensch in Massachusetts seit 80 Jahren von einem «Great White» totgebissen wurde, steckt Bewohnern und Besuchern von Cape Cod die Angst in den Knochen. Fünf Meter lange Haie wurden in 30 Metern Nähe zum Strand gesichtet; gefährdet sind alle, die sich in mehr als knietiefes Wasser wagen.
Was bleibt den Menschen in ihrer neuen Rolle als ungebetene Gäste?
Die Furcht kann mitfühlen, auch wer nicht vor Ort ist. Am Schreibtisch in New York vibriert die Smartwatch am Handgelenk beängstigend häufig, wenn die Sharktivity-App täglich neue Sichtungen weisser Haie meldet.
Dass sie sich vor Cape Cod tummeln, ist den Meeresräubern nicht zu verargen. Der lange Strand zählt zur «National Seashore», einer Naturlandschaft, wo keine neuen Häuser gebaut werden dürfen. Unter Schutz gestellt wurde sie von Präsident John F. Kennedy, dessen Familie auf dem Cape residiert. Als grösste Profiteure der Schonung haben sich jedoch Seehunde erwiesen, denn sie dürfen aufgrund eines Schutzgesetzes nicht mehr gejagt werden.
Ausser von Haien. Weil sich Seehunde dort massenhaft angesiedelt haben, muss das Küstenschutzgebiet den Raubfischen vorkommen wie ein Riesenbuffet, überquellend mit ihrer Lieblingsspeise und leicht zugänglich direkt vom Atlantik. Was bleibt den Menschen in ihrer neuen Rolle als ungebetene Gäste? Badende müssen aus dem Wasser flüchten, bis sich die dreieckige Rückenflosse verzieht. Surfer malen die Unterseite ihrer Bretter bunt, um nicht wie Seehunde auszusehen. Die Machtverhältnisse haben sich umgekehrt, und das Recht der Stärkeren setzt sich durch: Der Strand von Cape Cod gehört jetzt den Haien.
Erschienen am 21. August 2019 in der Basler Zeitung.